- 11.11.2019
Eine Karawane zieht durch die ‘Wüste’
„Kommst Du jetzt endlich?“
„JA, meine Güte!“, rief es genervt aus dem Badezimmer, „Ich bin hier im Urlaub und nicht auf der Flucht!“
„Wir wollten schon vor einer halben Stunde los!“, ich stand genervt mit der Klinke in der Hand vor der Wohnungstür . „Was machst Du denn da so lange?“
„Ich komme ja schon, ich komme ja schon! Noch zwei Minuten.“
„Ich kann ja anrufen und sagen, daß Madame noch nicht fertig ist und sie bitte heute AUSNAHMSWEISE nicht um 11 Uhr 11 anfangen…“, ich setzte mich wieder auf die Couch und seufzte.
„Bin ja hier!“, rief Sven und kam die Treppe runtergewackelt. „Ich musste mich doch noch mit Sonnencreme einschmieren!“
„Man sieht’s!“, prustete ich heraus. Svens Gesicht und Arme und Beine – eigentlich sein ganzer Körper – waren übersät mit weißen Flecken. „Hattest wohl keine Zeit, alles richtig zu verschmieren, oder?“, neckte ich ihn.
„Depp!“
Ich lachte und stand wieder auf. „Können wir dann jetzt?“
„Willst Du Dich etwa nicht eincremen?“
„Nöö“
„Du bist unverbesserlich! Und heute Abend stöhnst Du mir wieder die Ohren voll ‘Ohhh, alles tut so weeeeh!’ – Mitleid brauchst Du von mir dann aber nicht zu erwarten“
„Ja, ja“, ich verdrehte die Augen, „ich kann mich auch noch am Strand einschmieren! Jetzt komm, es ist 10 Uhr!!!“
Wir sind schon fast aus dem Haus draußen, da ruft Sven plötzlich: „Oh mein Gott, ich hab noch was vergessen!!! Der Sekt!!!“
Da muß ich ihm jetzt recht geben, DAS wäre echt eine Katastrophe – zum ‘Karneval Aleman’ am schwulen Strand ohne Sekt – das geht ja gaaaar nicht!
Nachdem wir dann wirklich alles dabei hatten – die Gurte von meinem Rucksack schnitten so heftig in meine Schultern, daß ich annahm, Sven hat etwas mehr als nur die drei Flaschen Sekt da reingepackt – ging es mit dem Auto schnell zum Rio Palace.
Auf dem Weg zum Eingang der Dünen durch die Hotelhalle trafen wir auf unsere Gleichgesinnten. Alle ebenso bepackt mit Taschen, die schwer in den Riemen lagen und verdächtig klimperten.
„PLOPP“, ein Sektkorken flog dicht über unsere Köpfe hinweg, als wir die Dünen erreichten.
„Prösterchen!!!“, schalte es neben uns aus vielen Mündern gleichzeitig. Eine Gruppe von ‘Damen’ mit überproportional großen Wimpern und den dazu passenden Brustumfängen wollte offensichtlich noch etwas Kraft tanken, bevor sie sich auf die anstrengende Wanderung durch die Dünen zum schwulen Strand machte.
Das war aber auch echt immer der anstrengendste Teil.
„Warte mal kurz“, meinte Sven, „DAVON muss ich ein Foto machen!“
Mit DAVON
meinte er die Menschenmenge, die sich durch den Sand in Richtung Strand kämpfte.
„Eine Karawane zieht durch die Wüste!“, lachte ich.
Zugegeben, es war eine äußerst bunte und lautstarke Karawane. Die Stimmung erinnerte mich an die gespannte Vorfreude, wenn man auf dem Weg zu einem Mega-Konzert ist. Je näher man dem Eingang kam, desto mehr Leute mit dem gleichen Ziel kamen hinzu und jeder war vor lauter Aufregung schön völlig überdreht und am Lachen.
Nach 25 Minuten anstrengender Wanderung in der Hitze, das schwere Gepäck auf dem Rücken, die FlipFlops tief im Sand sich vorwärts kämpfend – wurde eher gehechelt als noch gelacht.
Ich gründe eine Petition für den Bau eines Sessellifts über die Dünen, dachte ich, während wir völlig außer Puste endlich den Strand in Reichweite sahen.
„KÖÖÖÖÖÖLEE ALAAAF, KÖLE ALAF“, schallte uns entgegen. Eine Gruppe aus Köln – offensichtlich – war verkleidet in hauchdünnen, neongelben und pinken Kleidchen, die mehr offenbarten als das sie bedeckten, und sang lauthals das bekannteste aller Karnevallieder.
Sie trugen passende neonfarbene Kopfbedeckungen, dazu Ketten, Armbänder, Ringe, Handschuh, falsche Wimpern und – natürlich – das obligatorische Glas Sekt in den Händen. Eine Ansammlung von Champusflaschen, die alle kopfüber fein säuberlich in einer Reihe im Sand steckten, zeugte davon, daß die Gruppe wohl schon deutlich früher angefangen hatte zu feiern als wir.
„Hallöööööchen, Popööööchen!“, rief uns eine extrem in der Tonlage nach oben korrigierte Stimme zu. „Da seid Ihr ja endlich!“
Mit einem ‘er war schuld’-Seitenblick auf Sven begrüßte ich Herbert herzlich – d.h., ich wollte es-
„HALT! Nur Backe an Backe“ , rief er entsetzt, als ich ihn küssen wollte, „MEEEINEE Schminke!!!“
„Hallo Herb-“, begann ich zu sagen, doch von rechts riefs plötzlich:
„Oh, Hallo Tooooohommm! Hallooo Sveeeeheeennn!“. Es war Dietmar.
„Hallo Diet-“
Doch das „KÖÖÖÖLLLLEEEE ALLAAAAAFF“ der Neon-Damen unterbrach mich.
„Habt Ihr schon Puff-Brause zum Trinken?“
„Warum seid ihr so spät?“
„Jaa,… ähh, nein… weil wir-“
„Ohhh, hallo Toooohoomm und Sveeeheen!“, unterbricht mich David von links.
„Hallo Da-“
„FOOTTTOOOO!!!!“, ruft Herbert plötzlich.
„Du glaubst nicht, wen ich vorhin gesehen habe…“, will Dietmar mir gerade anfangen zu erzählen.
„Zieht Euch doch erstmal aus!“, ruft David dazwischen.
„Ja, wen denn-“, will ich Dietmar antworten.
„KÖÖÖLLLEEEE ALLLAAAAF!“.
Meine Güte, denke ich, was für ein heilloses Durcheinander!
„Ohhh“, kreischt Herbert auf ein mal, „Da muss ich hin!“ und rennt mit seinem ‘Strandschlampen’-Outfit zwischen Sven und mir hindurch. Völlig überfordert schauen wir ihm hinterher.
Ah-ja, die Neon-Damen haben sich zum Foto-Shooting aufgestellt.
Heidi von der Alm und ihre Mama sind auch da.
Ein Gladiator macht Nahaufnahmen.
„Halt!!!! Meine Falten!!!“, ruft Herbert ihm entsetzt zu, der sich mittlerweile zu der Foto-Gruppe gesellt hat. Doch er lacht über beide Ohren und strahlt.
Alle strahlen!
Und ich stelle jetzt erstmal meinen Rucksack ab!
Ich bin völlig fertig!
Sven geht’s nicht anders. Was für ein Chaos– und wir von Null auf Hundert.
„Tom?“, fragt Sven mich mit großen Augen.
„JA, DEFINITIV!“, entfährt es mir als ich die Sektflasche in seinen Händen sehe.
Wir setzen uns auf die Liege von Dietmar. Er und Herbert sind schon um halb sieben Uhr morgens aufgebrochen, um noch eine zu ergattern.
Während ich an meinem Becher schlürfe, komme ich zum ersten Mal dazu mich umzuschauen.
Der Strand ist voll – so voll wie noch nie.
Mehr noch als letztes oder vorletztes Jahr.
Viele sind verkleidet. Die meisten als Damen, aber auch Matrosen, Müllmänner und ein Pärchen, das sich als Engelchen und Teufelchen verkleidet haben sind dabei. Als sich das Teufelchen wegdreht, schaut da ein kleines Teufelsschwänzchen zwischen seinen nackten Pobacken hervor. Ich frage mich, wie er das befestigt hat – denn ich sehe keinen Gurt – andererseits – ich glaube, ich will es dann doch nicht so genau wissen.
Einige der verkleideten haben – sicherlich um Übergepäck zu vermeiden – nur die obere Hälfte ihres Kostüms mitgebracht. Untenrum sind sie nackt, oder mit etwas Schmuck verziert. Viele laufen sogar gleich ganz einheitlich im Adamskostüm rum. Oder tragen nur eine Socke – und diese Beschreibung überlasse ich jetzt Eurer Phantasie.
Menschen wohin man blickt. Die Dünen um uns rum sind besiedelt mit Heteropärchen, die sich das Schauspiel aus einer etwas sichereren Entfernung anschauen wollen. Doch viele laufen einfach mitten durch die Masse und lachen und fotografieren, was das Zeug hält.
Zwei kleine Hubschrauber drehen zwei Runden über uns.
„FLIIIIIEEGER, GRÜÜÜÜß MIR DIE SOOOONNNEEE!“, stimmen sofort die Neon-Damen ein und winken.
Ich schaue auf die Uhr – ui, 11:10 Uhr!
Es geht los!
„10 … 9…. 8… „ rufen die Leute um uns rum. Zwar nicht ganz einheitlich, aber wer will schon kleinlich sein.
„3 … 2 …. 1…. KÖÖÖÖLLLLEEEE ALLLAAAFFF!!!!“
Alle jubeln und kreischen.
Fünf Tausend Männer gleichzeitig!
Spätestens jetzt kommt man sich tatsächlich vor wie auf einem Konzert.
„PLOPP!“
„PLOOOOPPP!“
„Plop!“
Die Sektkorken fliegen durch die Luft.
Jetzt ist die Stimmung richtig aufgeheizt – wie zu Silvester. Nur das Feuerwerk fehlt.
Und wenn man einen Makel an der ganzen Party finden will, dann ist es wirklich vielleicht dieser. Die Feier geht bis auf den kurzen Jubel eigentlich genauso weiter, wie vorher.
Es gibt kein Showprogramm oder eine organisierte Musik, die den ganzen Strand beschallt. Das sind wir im Zeitalter von Super-Show-Events im Fernsehen oder sonstwo gar nicht mehr gewöhnt.
Hier feiert jede Gruppe für sich selbst und irgendwie doch alle zusammen.
Und wenn man genau darüber nachdenkt, dann ist dies vielleicht auch das Besondere an diesem „Karneval Aleman“. Er ist einfach irgendwann entstanden. Ich habe keine Ahnung wann, aber irgendwann muss eine kleine Gruppe damit angefangen haben und von Jahr zu Jahr sind es mehr und mehr geworden. Keiner hat es organisiert, keiner schlägt Profit daraus. Noch nicht einmal der Bude 7 Laden, der meiner Meinung nach wohl jedes Jahr am 11.11. wieder völlig überrascht ist, warum da plötzlich so viele Leute sind, die alle komischerweise Bier und Sekt haben wollen und die zwei überaus ‘flotten’ Bedienungen heillos überfordern.
Nein, der „Karneval Aleman“ auf Gran Canaria ist ein Fest, daß WIR aus uns selbst und der Freude an uns mit der Zeit erschaffen haben! Ein Hoch auf uns!
Einen inoffiziellen Programmpunkt gibt es dann doch – das Schaulaufen auf der großen Düne um 12 Uhr!
Jedes Jahr wieder aufs Neue verzaubern uns sechs Grazien mit ihrer besonderen Darbietung. Am oberen Rand der Düne laufen sie in ihren Kostümen entlang und winken in die jubelnde Menge. Ich schnappe mir die Kamera und laufe hin. Unten haben sich schon an die hundert Kerle versammelt, die wie wild fotografieren.
Die Grazien lassen sich aber auch immer etwas Tolles einfallen. Heute sind sie abwechselnd in schwarzen und weißen Sissi-Kleidern und Spitzenschirmchen unterwegs. Nach einer kurzen Choreographie kommt der Höhepunkt ihres Programms – sie rennen die Düne runter!
Es ist ein Bild für Götter!
Männer im Kaiserinnen-Outfit im weichen Sand, im Hintergrund der Himmel und das Meer.
Unten werden sie von einem spanischen Kamerateam empfangen. Ein Reporter hält der erstbesten ‘Sissi’ das Mikrofon unter die Nase.
„Wer kann spanisch? Wer kann spanisch?“, ruft sie aufgeregt in die Menge.
Die Kamera läuft, die Fotoapparate glühen – da haben wir ja doch noch unser vermisstes Feuerwerk!
„FLIEGER, GRÜß MIR DIE SOOONNNNEEE!“, ach ja, meine Neon-Damen wieder, denke ich leicht angedüddelt und blicke zum Himmel. Oh, ein Polizeihubschrauber diesmal. Ich winke und proste ihm zu und – ohps – verschütte meinen guten Sekt halb! Ohje, Alkohol mitten am Tag haut echt rein! Ich schaue auf die Uhr – es ist zwei.
Und noch eine Runde dreht der Hubschrauber.
„JUHUUUUUU, OLEEEEE!!!“, kreischen die Kerle nach oben.
Hmm, ob die Polizei sich auch überrascht fragt, was zum Teufel denn da los ist? Oder, wie es sein kann, daß so viele Männer ohne Gewalt friedlich miteinander feiern? Sogar eher lieb aneinander dran hängen, sich umarmen, küssen, kuscheln und …. Augenblick mal, DAS was ich da gerade gesehen habe, habe ich doch nicht wirklich gesehen!
Also wirklich! Am helligten Tag!
Doch tatsächlich, immer mehr zutrauliche Gesten, wohin man blickt. Manche sollten spätestens jetzt ihre eventuell doch mitgebrachten unteren Hälften der Kostüme anziehen. Ich bin definitiv nicht der Einzige, der eine Runde Wasser trinken sollte zum klar werden denke ich mir, als ich auf meinen leeren Becher schaue.
„Es ist unglaublich!“, jubelt Herbert, als er mal wieder an uns vorbeischwebt, „Hier wirst Du von Typen angebaggert die dich das ganze Jahr über nicht mal mit dem Arsch anschauen würden!“
Schwupp – und weg ist er wieder im Getümmel.
Ich muss zugeben auch ich entdecke immer mehr Kerle, die in mein Jagdmuster reinpassen – WO waren die denn noch vor drei Stunden? Eigentlich finde ich sie ja sogar alle toll, da kann ja irgendwas nicht stimmen.
„Na Du?“, fragt mich Einer, der sich rittlings auf meinen Schoß setzt. „Du bist ja auch ein gaaaanz Süßer!“, säuselt er mir ins Ohr.
Hej, denke ich, Du bist ja nicht so sehr mein Typ, aber andererseits… hmm, vielleicht doch…
„Prost!“, sage ich und schon sind wir mitten drin in einer ‘Unterhaltung’. Ein Weiterer gesellt sich dazu und ruckzuck ist meine Liege belagert.
Mittlerweile ist es halb vier und der Strand beginnt sich langsam zu leeren. Heute ging die Party länger als sonst. Das lag sicher am bewölkten Himmel. Auch liegen deutlich weniger Kerle k.o. irgendwo rum.
Außerdem hat das große Abschminken begonnen – ein deutliches Zeichen dafür, daß sich die Feier dem Ende zuneigt.
„Packen wir’s?“, gähnt mir Sven aus etwas glasigen Augen entgegen.
„Ja, ich bin platt. Außerdem glüht mir etwas der Kopf. Ich glaube, ich habe mir trotz Wolken einen Sonnenbrand geholt“, ich reibe mir über die Stirn.
„Erwarte bloß kein Mitleid!“, entgegnet Sven.
„Ja, ja, schon gut!“
„Sehen wir uns nachher noch im Yumbo?“, fragt Herbert. Unglaublich, wieviel Energie der Kerl hat!
„Mal sehen“, meint Sven.
„Boar, weiß echt nicht.“, entgegne ich.
„Och nö“, Herbert klingt leicht enttäuscht. „Ihr müsst kommen!“
„Mal sehen.“, wiederholt Sven.
Wir küssen alle die wir schon vorher kannten und alle, die wir neue kennengelernt haben zum Abschied und machen uns happy aber k.o. auf den Rückweg durch die Dünen.
Die Karawane zieht wieder…